Johan Meerman (1753-1810) unternahm zwischen 1786 und 1800 drei ausgedehnte Reisen durch große Teile Europas. Er veröffentlichte darüber umfassende Reiseberichte, die auch - teilweise gekürzt - in deutschen Übersetzungen herauskamen. In der 1810 erschienenen Übersetzung von Rühs J. Meerman's, ist über Memel zu lesen: M e m e l wird von einem kleinen Flusse, der nicht weit von hier anfängt und zu einer Art Haven ausgegraben ist, in zwei Theile gesondert, von denen der auf der russischen Seite, obgleich hier auch einzelne gute und sogar ein schönes Gebäude gefunden werden, doch nichts anderes als Vorstadt ist; die meisten Häuser sind von Holz, die Straßen ungepflastert, einige derselben mit Bäumen besetzt, und an beiden Seiten mit Breterzäunen, hinter denen Gärten verborgen liegen; man sieht hier sogar eine Art von Landsitz; auch trifft man eine befriedigte Promenade; überhaupt fehlt es der Stadt nicht an schattigen Spaziergängen. Erst wenn man die Zugbrücke über den Haven zurückgelegt hat, befindet man sich in dem vornehmsten Theile von M e m e l; eine nicht sehr breite, gerade Straße, die auf ein Thor ausgeht (Friedrich-Wilhelm-Straße), wird durch eine viel breitere Gasse, die mit dem Haven parallel läuft (Marktstraße), durchkreuzt. Hier befinden sich die lutherische oder Hauptkirche, die inwendig nicht häßlich ist und eine schöne Orgel hat, die Hauptwache, das Posthaus und die besten Kaufmannshäuser. An der linken Seite der eben erwähnten schmaleren Gasse ist wenig Raum; an ihrer rechten trifft man aber verschiedene andere Gassen und einen Markt. Der Haven wird auf der einen Seite ganz, auf der anderen zum Theil von einem Kai oder Gange begleitet. Links vom Haven erhebt sich in ihren eigenen hohen Wällen, die nicht überall bepflanzt sind, die verlassene Citadelle, die mit Gräben und sogar mit Ueberbleibseln von Außenwerken umringt ist. Aus derselben ragen ein alter runder Thurm und ein ziemlich modernes Kommandantenhaus hervor. In der Mitte liegt ein verfallenes Schloß. Die Aussicht von hier auf die Rhede mit ihren Schiffen, die Mündung des Kurischen Haffs und das jenseitige Sandriff, wovon ich gleich sprechen werde, ist nicht unangenehm. Die Bauart der Stadt hingegen macht keinen heitern Eindruck; die Häuser sind durchgängig halb weiß und halb bläulich übertüncht; viele derselben haben Vorplätze. Außer der Hauptkirche, einem reformirten und einem katholischen Gotteshause vor der Stadt ist auch eine Kirche für die Letten, oder wie man sie hier zu nennen pflegt, die Litthauer, vorhanden. Buden und Läden sieht man in M e m e l nicht so häufig, als in den russischen Städten. Ueberall erblickt man indessen Spuren von Wohlhabenheit und in den Gesichtern schien mir eine gewisse Gutmüthigkeit zu liegen. Der kleine Haven der Stadt fällt in das Kurische Haff, einen Busen der Ostsee. Die Mündung dieser Bucht, die ziemlich geräumig ist, und den östlichen Strand von einem langen schmalen Sandstrich trennt, der im Norden des Busens sich westlich hinzieht, eröffnet sich M e m e l quer gegenüber; und die Schiffe, die Güter in die Stadt führen oder von dort abholen wollen, liegen innerhalb dieses Golfs, wie auf einer Rhede vor Anker; nur kleinere Fahrzeuge können bis an die Brücke im Haven kommen, der etwa fünf Minuten lang seyn soll; hinter der Brücke ist auch ein Werft für kleine Schiffe. M e m e l ist von der K u r i s c h e n N e h r u n g ungefähr eine halbe Meile entfernt. Einige Meilen westlicher fällt ein weit ansehnlicherer Fluß, der ebenfalls die M e m e l genannt wird, in diesen Meerbusen; er entspringt hoch in Polen und führt daher die Produkte dieser Gegenden, vornähmlich Holzwaaren, Korn, Hanf und Leinsamen nach der Stadt; sie werden größtentheils nach E n g l a n d abgesetzt; der Markt für die Retourladungen ist aber, seitdem fremde Güter nur gegen fürchterliche Zölle in R u ß l a n d und R u s s i s c h P o l e n eingeführt werden dürfen, ungemein beschränkt. Die hiesigen Kaufleute hatten 30-40 Schiffe, die aber auswärts gebaut waren. Während meines Aufenthalts lagen überhaupt etwa 20 Fahrzeuge auf der Rhede. Westlich von der Stadt liegen eine Menge Sägemühlen an dem Meerbusen. |