Spaziergänge und Ausflüge.
Kurischen Nehrung.
"Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebensogut als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll."
(Wilhelm v. Humboldt.)
In einer Länge von 98 km und einer Breite von 0,5 - 3,5 km, bespült von der Ostsee und dem Kurischen Haff, gehört sie zu den eigenartigsten Küstenformationen der Erde, von Alters her bis heute dem Geologen und Altertumsforscher ein dauernd interessantes Forschungsobjekt, den eigenen Bewohnern eine trotz Armut und Gefahr über alles geliebte Heimat, dem sie aufsuchenden Badepublikum ein unversiegbarer Quell der Gesundheit und Erholung, Malern und sinnigen Naturfreunden aber ein schimmernder Schatz aus dem goldnen Ueberfluss der Welt!
Der Name »Nehrung« hängt höchstwahrscheinlich mit dem altpreussischen Worte neria (später nerga) zusammen, welches einen von Wellen aufgeworfenen und aus dem Wasser ragenden Landstreifen bezeichnet. In der Diluvialzeit noch mit dem Festlande zusammenhängend, wurde dieser Streifen durch eine Erdsenkung, welche sich mit dem Süsswasser der Küstenströme füllte und so das heutige Haff (grösste Breite 45 km) bildete, von jenem getrennt. Der überzeugendste Beweis ist die Gleichheit der Uferschichten an den gegenüberliegenden Gestaden. Sogenannte Gatts oder Tiefe verbanden damals noch an den tiefsten, gleichfalls gesenkten Stellen der Nehrung das Haff und die See, worauf die ersteren allmählich vertorften und versandeten bis auf das Memeler Tief. Ihre breiten Rinnen erkennt man deutlich bei Cranz, bei Sarkau und Pillkoppen. Bis zur Zeit des siebenjährigen Krieges zum grössten Teil mit altem Walde bestanden, den schon der Orden und der Grosse Kurfürst gelichtet hatten, fiel auch der Rest unter der Axt der russischen Raubhorden. Der grosse Wildreichtum wurde gleichfalls ihre Beute.
Welcher Art diese Waldvernichtung war, geht aus dem Bericht der Chronik hervor, nach welchem von der Rossittener Forst von 17 419 Morgen Wald nur 380 Morgen übrig geblieben waren, die noch bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts von der Unvernunft der Nehrungsbewohner selbst weiter ausgeholzt wurden. Die herrlichen Baumbestände von Rossitten, Nidden, Schwarzort sind die winzigen Reste jenes stolzen Nehrungswaldes.
Sturz-Düne.
Mit dem Verschwinden des Waldes brach nun das Verhängnis über die Nehrung herein. Unter dem Einfluss der Witterung und des Sturmes wurde zunächst die Pflanzendecke rissig und schliesslich hinweggefegt. Die Weststürme trieben jetzt den trockenen Seesand überall ungehindert die Küste hinauf. Er staute sich und bildete Sandwälle bis zu 60 m Höhe - die Dünen. Was Wind und Sturm nun vom Abhang der Düne an losem Sande lösten und hinaufrollten, fiel jenseit des Kammes nieder - die Düne wälzte sich oder wanderte, und zwar mit einer Geschwindigkeit von 5-10 m im Jahr unaufhaltsam über die Nehrung hinweg, verschüttend und wieder aufdeckend das Verschüttete, dem Haffe zu, um hier endlich als Sturzdüne ihre unheimliche, vernichtende Wanderung zu beschliessen. Vernichtet war jeder Waldrest, nur vereinzelte Waldriesen reckten noch trotzig-zäh ihre Wipfel höher, als die Unwiderstehliche hinaufreichte, und blieben leben (Schwarzort). Vernichtet und begraben wurde manches Fischerdorf (Karweiten, Lattenwalde, Pillkoppen, Kunzen), dessen Bewohner ihre Heimstätten aufgaben und sich neu anbauten. Zerstört wurden sogar die Gräber der Verstorbenen, deren Gebeine noch heute an jenen Stätten bleichen (sogenannte Pestkirchhöfe Karweiten und Kunzen).
Hatte sich eine Düne im Haff ersäuft, so war damit für die Zukunft die Gefahr nicht abgewendet. Es bildeten sich neue, die denselben Verlauf nahmen. Lagen längere Zeiträume zwischen der Aufeinanderfolge der einzelnen Wanderdünen, so überzogen sich geschützte Stellen mit einer dünnen Pflanzendecke, die von der nächstfolgenden Wanderdüne natürlich bedeckt wurde. Die schwarzen Streifen Humuserde in manchen Sandabhängen sind Zeugen dieser wiederholten Nachwanderung der Dünen.
Da endlich zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts griff der Staat ein, um Herr der Düne zu werden, welche ausser der geschilderten Vernichtungstätigkeit auch die Fahrrinne des Haffes verschüttete und so die Schiffahrt bedrohte. Mit Klugheit, Mühe und Geldopfern von vielen Millionen Mark gelang es endlich, den flüchtigen Dünensand mit Hilfe von künstlich angelegten Vordünen, Strandhafer, Strandhalm (Arundo arenaria und Elymus arenarius), Lehm, Schlick, Strauchzäunchen und Bepflanzen von Zwergkiefern endlich festzulegen. Aus der Ferne gesehen, erscheinen jetzt manche solcher Dünen wie gewaltige Riesen, welche lang ausgestreckt, regungslos unter ihren Schilden am Boden liegen - bezwungen, gefesselt für immer durch List und Zähigkeit der Menschlein. Einige allerdings - so zwischen Schwarzort und Nidden, zwischen Nidden und Perwelk, bei Sarkau - erheben sich noch in alter, unangetasteter gigantischer Wildheit und blendendweisser Pracht. Wenn die Julisonne darüber brennt, der knirschende Sand unter unsern Füssen glüht, über flimmernden Luftwellen hoch am azurnen Firmament weisse Wölkchen segeln, deren Schlagschatten an den Dünenwänden vorüberhuschen, dann schwelgt das Auge in den majestätischen Konturen und den lichten Farben der »nordischen Sahara«, welche selbst in der Fata Morgana ihrer grossen Schwester ähnliches zu bieten sich bestrebt.
Die älteste Strasse längs der Nehrung war die Poststrasse, welche von Königsberg über Cranz nach Memel führte, um von da Anschluss an die Etappen Riga, Reval, Narva, St. Petersburg zu finden. Bis Rossitten lief sie an der Haffseite, von dort bis Sandkrug an dem Seestrande entlang. Mit dem Bau der Chaussee von Königsberg nach Tilsit-Tauroggen wurde die Poststrasse 1833 dahin verlegt, und die Nehrungsstrasse blieb unbenutzt und geriet in Vergessenheit.
Jetzt ist ein fester Kiesweg - die neue Poststrasse - von Sandkrug bis Cranz angelegt, der die einzelnen Nehrungsorte miteinander verbindet. Der nördlichste von ihnen ist der kleine Badeort S ü d e r s p i t z e, durch eine schöne Wald- und Haffuferpromenade vom Sandkruge aus zu erreichen. Auf dem entfestigten Nehrungsfort erhebt sich ein leiterartiges, hohes Gerüst mit beweglichen Signalarmen und -ballen. Es ist ein Windsemaphor, welcher den vorüberfahrenden Schiffern Windrichtung und Windstärke der benachbarten Semaphorstationen Brüsterort und Libau angibt.
An den Villen von Sandkrug vorbei gehts nun die Poststrasse entlang, bald zwischen bewaldeten Hügeln dahin, bald über diese hinweg dem 18,6 km entfernten Schwarzort zu. Wegweiser orientieren den Wanderer überall: »Hagenshöh« (malerischer Aussichtspunkt), »Bärenschlucht«, »Erlenhorst« (Försterei auf dem halben Wege nach Schwarzort, wo ein frischer Trunk erhältlich ist) sind Raststellen, wo man mit einem Blick das blaue Meer, die grüne Nehrung und das meist spiegelglatte Haff mit der bewaldeten Festlandseite umspannt. Nach etwa 4 stündigen Marsche nimmt der mächtige Kiefernhochwald von Schwarzort den Wanderer in seinen Schatten. Zur linken, Hand bleibt der ehemalige Bernsteinhafen, der Mittelpunkt der 1890 eingegangenen Bernsteinbaggerei von Stantin und Becker, die in guten Jahren bis 75 000 kg Bernstein aus dem Haffgrunde förderte. Dann grüssen bereits die zahlreichen Villen und Kurhäuser des etwa 500 Einheimische zählenden stark frequentierten Badeorts S c h w a r z o r t mit seinem überaus milden Seeklima.
Schwarzort.
Nach ausgiebiger Rast und Stärkung im »Kurischen Hof«, »Hotel Sturmhöfel« oder »Hotel Bachmann« dürfte sich die Rückfahrt nach Memel mit dem Dampfer »Schwarzort« empfehlen. Wer von den mannigfachen Schönheiten Schwarzorts auf der Durchreise eine An-schauung erhalten will und mindestens einen halben Tag zur Verfügung hat, der sei auf folgende Hauptspaziergänge aufmerksam gemacht:
1. Gang durch die romantische Bergstrasse mit wunderbaren Ausblicken in das bewaldete Kesseltal, auf Haff und See (ca. ¾ Stunde),
2. Gang nach dem etwa 70 m hohen Blocksberge mit herrlicher Fernsicht über Nehrung, Haff und See bis Memel und Nidden (ca. ½ Stunde),
3. Gang längs dem Badewege zum Seebade mit der Strandhalle (ca. 20 Min.).
Diese drei Wege lassen sich auch vereinigen, indem man die Dorfstrasse am Haff entlang bis zur Pfarre zurücklegt, dann längs der Bergstrasse über »Schlickmannshöh«, »Stern«, »Sängerhain«, »Bellevue« den Badeweg gewinnt, auf diesem zur See gelangt und von dort den weithin sichtbaren Glaspavillon des Blocksberges zum Ziel der Wanderung nimmt, Beim Abstieg vom Blocksberge verfolge man von »Müllers Haag« den »Juliusgang«, lasse das »Grikinnbruch« links und gehe zur Berghalle (Restauration). Diese liegt unmittelbar an der Dorfstrasse.
Arzt, Hausapotheke am Ort, Moorbäder. Jede gewünschte Auskunft erteilt das Badekomitee.
Wer zu Fuss nach Nidden weiterstrebt, verlässt das Dorf an der »blonden Eva« und den »Reiherbergen« vorbei, wo Scharen von Reihern horsten, und gelangt längs der Poststrasse über die anfangs angeforstete, dann schauerlich öde Düne in das Kupstenterrain, so genannt nach den zerrissenen, halb mit Pflanzen bedeckten, halb kahlen Hügeln oder »Kupsten« zwischen der Vordüne und der Hauptdüne, die der Sturm aus dem Flugsande der Vordüne zusammenwehte und wieder zerriss. Ein solch charakteristischer Streifen des Kupstenterrains füllt übrigens längs der ganzen Nehrung, hier breiter, dort schmäler, den Raum zwischen Vor- und Hauptdüne. Nach einer Strecke von 15,5 km, der traurigsten, einförmigsten der ganzen Nehrung, liegt am Haffstrande das kleine Fischerdorf P e r w e l k, 5 km weiter P r e i l. Doch schon vor Perwelk hat die Einförmigkeit ein Ende. Die Düne erhebt sich bis zu 60 m, ist angeforstet, und von nun an führt die Strasse bergauf, bergab durch schönen Wald bis Nidden, bei einer Wegstrecke von 7,5 km, von Preil gerechnet. In diesem Teil der Oberförsterei Rossitten halten sich in grösserer Zahl Elche auf, die bis Süderspitze über die ganze Nehrung wechseln.
Elchkopf.
N i d d e n, mit seinen ungefähr 800 Einwohnern, mit Arzt, Apotheke, Post, guten Kurhäusern, und zahlreichen Badegästen im Sommer, ist der grösste Nehrungsort. Der Leuchtturm mit Blinklicht und die hochragende Kirche sind die schon fern sichtbaren Wahrzeichen des Dörfchens, das von bepflanzten, 63 m hohen Wanderdünen, welche es schon tödlich bedrohten, und altem, prächtigem Plantagenwalde mit grösseren Laubholzstrecken völlig umhüllt ist. Eine herrliche Fernsicht vom Leuchtturm.
Nidden.
Dampferverbindung mit Memel und Königsberg-Cranz, sowie den dazwischen liegenden Badeorten.
10 km südlich von Nidden liegt P i l l k o p p e n. Hierhin gelangt man auf dem bequemen, schattigen Waldwege der Poststrasse oder indem man sogleich beim Erscheinen der gewaltigen Sturzdüne vom Waldwege links abbiegt und auf diese zusteuert -- beschwerlicher aber ungleich lohnender! Auf dem Kamm angelangt, hat man das Gefühl, aus einer Oase mitten in die Wüste versetzt zu sein. Und dieser Eindruck verstärkt sich - wie eingangs geschildert - wenn wir den steilen Abhang zum Haffstrande hinabrutschen und nun unsern Weg nach Pillkoppen am Fuss der Dünen fortsetzen.
Pillkoppen selbst erscheint mit seinen sauberen, aneinandergereihten Häuschen und grünen Haffuferweiden wie ein Alpendorf, am Fusse von steil aufragenden, durch die Pflanzung schwarz erscheinenden Sandriesen. Dem hochverdienten Düneninspektor Epha ist auf Ephashöhe ein Denkstein errichtet. Eine 200 m breite Senkung zwischen den Dünen vom Haff quer zur See bezeichnet das ehemalige Tief, welches beide Gewässer verband.
Ueber Ephashöhe führt die Poststrasse durch Waldbestände nach dem etwa 9 km entfernten Badegort R o s s i t t e n. Eine weite bis zum Haff reichende Weidefläche dehnt sich vor dem Dorf aus, welches dicht am Wasser eine tief einschneidende Haffbucht umrahmt und mit seinen sauberen, hellen Häuschen, der Kirche und der alten Oberförsterei einen einladenden Eindruck macht.
Vom Haff aus gesehen, scheint es wie ein kleines Venedig auf dem Wasser zu schwimmen. Hinter dem Dorfe glaubt man sich ins Samland versetzt, so grün sind die Weiden, so üppig die Getreide-, besonders die Weizenfelder! Ein Bild aus der Vergangenheit der übrigen Nehrung und ein Beweis dafür, welcher Art wohl der ganze Nehrungsboden ist, auf dem die Dünen lasten. Die Wanderdünen, welche diese fruchtbaren Gefilde auch bedrohten, stehen festgebannt vor uns, ein Werk des Oberforstmeisters Müller-Königsberg.
Eine in ihrer Art einzige Einrichtung in Deutschland ist die staatlich fundierte Vogelwarte von Professor Thienemann, eine wissenschaftliche Beobachtungsstation des Vogelfluges für den Teil der Vogelwelt, welcher bei seinen alljährlichen Zügen diese Flugstrasse einhält und auf der Nehrung ev. Rast macht. Es sind ungefähr 240 Arten beobachtet worden. Unterstützt wird die Warte in ihren Arbeiten durch die biologische Station von Helgoland, die Wetterwarten auf der Zugspitze, der Schneekoppe und dem Brocken, den Leuchtturmstationen und den Vereinen für Luftschiffahrt. Bei dem Besuch der hochinteressanten Sammlung von Eiern und ausgestopften Vögeln wird über alle diesbezüglichen Fragen bereitwilligst Auskunft erteilt.
Der »Möventeich«, wo Tausende von Möven mit anderen Wasser- und Sumpfvögeln nisten, wird ebenfalls von Fremden gern aufgesucht. Möveneier werden in grossen Mengen den Nestern entnommen und nach Grossstädten verschickt, wo sie ihre Liebhaber finden. Die Poststrasse führt an »Müllers Höh« vorüber, von wo man einen weiten Rundblick über Haff, See, Samlandküste und fast über die ganze Nehrung geniesst, nach Ulmenhorst, einer Filiale der Vogelwarte, und dem etwa 20 km entfernten Sarkau. In dem links liegenden Dünengelände liegen die Ortschaften Kunzen (verschüttet 1825) und Lattenwalde (verschüttet 1762) begraben. Vor Sarkau liegt die Nehrung auf zirka 500 m zusammengeschnürt und so tief zum Niveau des Wassers, dass vor noch nicht langer Zeit die Meereswogen bei grossen Sturmfluten hinüber bis ins Haff schlugen. Dieses ist auch die Stelle des ehemaligen Tiefs.
S a r k a u, ein freundliches Kirchdorf, liegt von dem schönen Plantagenwalde rings umschlossen. Flundern- und Krähenfang sind hier bedeutende Einnahme- und Nahrungsquellen der armen Fischer. Es ist ein eigenartiges Naturschauspiel, wenn von Oktober bis Dezember die Nebelkrähen, mit Saatkrähen und Dohlen gemischt, zu Tausenden (an einem Oktobermorgen schätzte man 28 000) wie schwarze Wolken auf ihrer Flucht vor dem nordischen Winter über die Nehrung nach Süden ziehen, um dann von Februar bis April wieder denselben Weg zurück zur nördlichen Heimat zu machen. Bei dieser Gelegenheit werden die Krähen von den Fischern mit Netzen gefangen und, wie Geflügel zubereitet, gegessen. Das Töten der Vögel an Ort und Stelle geschieht höchst originell: Der Vogelfänger drückt mit seinen Vorderzähnen der Krähe die Schädeldecke ein! Dieses Verfahren hat den Fischern den Spottnamen »Kregebieters« (Krähenbeisser) eingetragen.
Noch 10 km Waldweg von Sarkau bis Cranz - und die Nehrungstour ist beendet, nicht ohne Strapazen, aber auch nicht ohne reichen Gewinn an höchst eigenartig Geschautem und Erlebtem!
Von nicht geringerem Reiz ist nun eine Dampferfahrt von Cranz nach Memel oder umgekehrt, bei
welcher das ruhige Haff oft wie flüssiges Metall in allen Farbennüancen schillert. Haubentaucher und
Wildenten stossen aus dem Spiegel empor, um schnell wieder zu verschwinden, kreischend folgt die Möve, hoch oben zieht der Seeadler seine Kreise, und die Nehrung in ihren ruhigen Konturen und dem Wechsel von sattem Grün und blendendem Weiss der Dünen gleitet langsam vorüber . . . . .
|